Brüssel. Vier von fünf Finnen würden ihr Land im Ernstfall mit der Waffe verteidigen. „Wegen der Wehrpflicht ist auch praktisch jeder mit dem Dienst in der Armee vertraut“, sagt der finnische Sicherheitspolitiker Jukka Kopra. Die mehr als 1300 Kilometer lange Grenze zum unberechenbaren Nachbarn Russland habe man in Finnland schon immer als potenzielle Bedrohung gesehen.
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Finnland gilt als Vorreiter in der EU, wenn es um die Verteidigungsfähigkeit und Resilienz in der Bevölkerung geht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte daher den früheren finnischen Präsidenten Sauli Niinistö mit einem Bericht beauftragt, wie gut die EU dasteht und was sich dringend verändern muss.
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„Wir müssen gemeinsam als EU mehr tun“, sagte Niinistö am Mittwoch bei der Vorstellung des Berichts in Brüssel. Auf 165 Seiten legt der Finne schonungslos dar, wie groß die Defizite innerhalb der EU sind. Die EU und die Mitgliedsstaaten seien nicht auf schwerste Krisen vorbereitet, zumal sich die Sicherheitslage derzeit rasant verschlechtere, so das Fazit. Die Gefahren durch den Klimawandel, Cyberattacken, Sabotage und das Risiko eines Angriffs durch Russland seien allgegenwärtig.
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Zu wenig Vertrauen untereinander
Niinistö hält einen europäischen Geheimdienst für sinnvoll, um die vielen Informationen der nationalen Dienste zu bündeln. Es gibt zwar das EU Intelligence Analysis Centre, doch nur wenige Staaten teilen bisher Informationen, sagte Niinistö. Es gebe zu wenig Vertrauen. „Wenn wir gemeinsam für Sicherheit sorgen wollen, müssen wir uns gegenseitig vertrauen.“ Doch einige Länder befürchten, dass etwa Ungarn vertrauliche Geheimdienstinformationen an Moskau weitergeben könnte. Von der Leyen kündigte an, mit den Mitgliedsstaaten über eine bessere nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zu sprechen. Das EU-Nachrichtendienstzentrum müsse gestärkt werden, schließlich sei ein klares Lagebild auch im Interesse der Mitgliedsstaaten.
Deutschland und Großbritannien wollen in verschiedenen Bereichen der Sicherheitspolitik enger zusammenarbeiten und besiegelten dies durch das „Trinity House Agreement“. Für die Briten sind bilaterale Verträge ein schneller Weg, sich Europa anzunähern.
Der finnische Ex-Präsident fordert in seinem Bericht zudem, die Bürger in den Mittelpunkt der Vorbereitungen für den Ernstfall zu stellen. Sie sollen eine „aktive Rolle bei der Krisenvorsorge und -bewältigung“ spielen. Die Menschen müssten für die Gefahren sensibilisiert und ihre psychologische Widerstandsfähigkeit gefördert werden. Ohne in Panik zu verfallen, sollten sich die Menschen auf Krisenszenarien vorbereiten und beispielsweise in der Lage sein, sich drei Tage lang selbst zu versorgen. Ebenso komme es auf Unternehmen an, die wichtige Produkte herstellen oder transportieren.
Niinistö schlägt auch eine regelmäßige EU-weite Übung vor, um die Zusammenarbeit zwischen allen relevanten Akteuren zu prüfen. „Die EU braucht eine umfassende Übungskultur, um sicherzustellen, dass die Koordinierung der Maßnahmen, der Informationsaustausch sowie die verschiedenen Instrumente selbst unter schwierigsten Krisenbedingungen funktionieren“, heißt es im Bericht.
Konzepte vor Ort schon erprobt
Es sind Konzepte, die so ähnlich in Finnland schon erprobt sind, sagte Sicherheitspolitiker Kopra. Immer wieder gebe es Übungen, sagt er. „Denn wenn die Krise eintritt, dürfen wir keine Zeit verlieren.“ Jeder Bürger wisse, was er im Ernstfall zu tun habe. Führungskräfte, CEOs, Abgeordnete und viele andere durchlaufen in Finnland einen dreiwöchigen Verteidigungskurs, sagt Kopra, in dem sie mit verschiedenen Maßnahmen vertraut gemacht werden. Der Schlüssel liege in der Zusammenarbeit der verschiedenen Regierungsstellen, zivilen Akteuren und den Bürgern.
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Angesichts der Gefahr von Kriegen müsse die EU sicherstellen, wie sie – neben der Nato – ihren Beitrag bei der Unterstützung eines angegriffenen Mitgliedsstaates leisten kann, erklärt Niinistö. Die EU-Staaten sollen zudem ihre Verteidigungsfähigkeiten ausbauen und mehr investieren, um die militärischen Defizite zu beheben. Er lobt im Bericht die großen Verteidigungsprojekte, die von der EU für die nächsten Jahre geplant werden. Das Luftverteidigungsschild und die Cyberabwehr sind zwei dieser Flaggschiffprojekte. Wichtig sei jedoch, dass sie einen strategischen Unterschied ausmachten. Mindestens 20 Prozent des gesamten EU-Haushalts müssten aus seiner Sicht für die Sicherheits- und Krisenvorsorge bereitgestellt werden. Auch gemeinsame Schulden zu diesem Zweck schließt er nicht aus, das sei doch zum Wohle aller. Von der Leyen sieht keine Möglichkeit für solche Vorsorge-Eurobonds – wohlwissend, dass es unter den Mitgliedsstaaten keine Mehrheit für gemeinsame Schulden gibt.