Was passiert, wenn die Schweiz eine Naturkatastrophe mit vielen Opfern bewältigen muss?

Erstmals beteiligt sich die Schweiz an einer Übung des EU-Katastrophenschutzes. Sie dürfte von der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union auf diesem Gebiet profitieren – aber auch umgekehrt.

Gebäude sind eingestürzt, überall liegen Trümmer, zerstörte Fahrzeuge. Ein Bus mit zerborstenen Scheiben steht auf einem Schutthaufen, die Rotorblätter eines Helikopters dröhnen. Rettungskräfte suchen nach Opfern.

Zwei Hunde eines Schweizer USAR-Teams sind schon im Einsatz. USAR steht für Urban Search and Rescue – damit sind Rettungsteams gemeint, die im städtischen Umfeld eingesetzt werden, um verschüttete Personen zu lokalisieren und zu befreien. In Deutschland, der Schweiz und Österreich gibt es mehrere solcher Teams, die auch im Ausland aktiv werden können. Die Belgische Schäferhündin Clooney läuft mühelos über die Betonbrocken, macht plötzlich kehrt, schnüffelt und schlägt an. Hier liegt ein Mensch begraben. Bei lebendigem Leibe.

Im Oberrhein-Graben nördlich von Basel hat ein Erdbeben der Stärke 6,9 die Region erschüttert, es gibt mehr als hundert Tote, dazu kommen unzählige Verletzte und Vermisste. Das Land Baden-Württemberg ist mit der Suche und Bergung überfordert. Internationale Hilfe wird gebraucht. Das ist das Szenario der Übung «Magnitude» des EU-Katastrophenschutzes. Erstmals nimmt die Schweiz daran teil, mit 23 Einsatzkräften.

Mirjam Kälin belohnt Clooney für ihren Fund, sie hat das Opfer innerhalb einer halben Minute gefunden. Kollegen schieben eine Kamera zwischen die Trümmer, um auszuloten, wie sie am besten zu der eingeschlossenen Person gelangen. Klopfgeräusche weisen darauf hin, dass noch eine weitere Person unter den riesigen Betonbrocken begraben liegt.

Die ersten 24 Stunden sind essenziell nach einem Erdbeben. Danach schwindet die Überlebenschance von Verschütteten rapide.

Ein zerstörter Bus, Trümmer und verschüttete Personen: So sieht das Erdbebenszenario bei der EU-Katastrophenschutz-Übung aus.

Ein zerstörter Bus, Trümmer und verschüttete Personen: So sieht das Erdbebenszenario bei der EU-Katastrophenschutz-Übung aus.

Mirjam Kälin, Einsatzkraft aus der Schweiz, und ihre Suchhündin Clooney, im Training Center Retten und Helfen (TCRH) in Mosbach.

Mirjam Kälin, Einsatzkraft aus der Schweiz, und ihre Suchhündin Clooney, im Training Center Retten und Helfen (TCRH) in Mosbach.

Internationaler Grosseinsatz

Wir sind auf einem Übungsplatz im baden-württembergischen Mosbach. Das ehemalige Bundeswehrgelände wurde zum «Training Center Retten und Helfen» (TCRH) umgebaut. Das Areal ist speziell auf Übungen zur Räumung, Bergung und Versorgung verletzter Personen ausgerichtet – die ideale Umgebung, um ein Erdbeben zu simulieren.

Etwa 950 Personen aus Deutschland, Frankreich, Österreich und Griechenland arbeiten an der dreitägigen Übung mit. Hinzu kommen über 150 Fahrzeuge, 15 Hunde sowie 2 Helikopter. 1,36 Millionen Euro kostet die internationale Aktion, die von der Europäischen Kommission kofinanziert wird. Es ist die grösste Übung im Rahmen des EU-Katastrophenschutzverfahrens, die je in Deutschland organisiert wurde. Aber was hat die Schweiz davon?

«Wenn wir den Bevölkerungsschutz weiterentwickeln wollen, müssen wir über die Grenzen schauen», sagt Roland Bollin, Leiter des Bereichs Internationale Angelegenheiten beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs). Er begleitet die Schweizer Einheiten und beobachtet den Übungseinsatz. Bollin sieht das Engagement der Schweiz als Notwendigkeit.

«Katastrophen und Notfälle kennen keine politischen oder geografischen Grenzen», sagt Bollin. Es ist der Leitsatz des Tages. Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl sagt ihn und der EU-Kommissar für Katastrophenschutz Janez Lenarcic, der angereist ist, um die Übung zu beobachten.

Roland Bollin, Leiter des Bereichs Internationale Angelegenheiten und stellvertretender Stabschef des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz, beobachtet die Übung im Trainingszentrum in Mosbach.

Roland Bollin, Leiter des Bereichs Internationale Angelegenheiten und stellvertretender Stabschef des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz, beobachtet die Übung im Trainingszentrum in Mosbach.

Bild links: Eine Drohne hebt ab, während der Übung im Mannheimer Hafen. Bild rechts: Einsatzkräfte in Schutzanzügen von der Wiener Feuerwehr.

Was alle betonen: Mit der Verschärfung der Klimakrise werden extreme Wetterlagen in Europa häufiger. Erst im Mai hatten starke Regenfälle zu einer verheerenden Flutkatastrophe in Baden-Württemberg und Bayern geführt. Auch in der Schweiz entstanden grosse Schäden, insbesondere im Wallis. In Griechenland kam es erneut zu verheerenden Bränden, zuletzt standen Wälder in Portugal in Flammen. In Bosnien lösten wiederum starke Niederschläge Überschwemmungen aus. Europa wird zugleich überschwemmt und brennt. «Das ist keine Anomalie, sondern neue Realität», sagt EU-Kommissar Lenarcic.

Szenario Erdbeben

Die EU-Mitgliedstaaten wollen vorbereitet sein. Und gemeinsam stehen mehr Ressourcen zur Verfügung. Man kann voneinander lernen, Methoden und Abläufe verbessern, die Zusammenarbeit im Fall einer grösseren Naturkatastrophe trainieren – in diesem Fall ein Beben. Das Erdbeben von Basel gelte dabei als Referenzszenario, erklärt der Übungsleiter Christian Resch. Im 14. Jahrhundert ereignete sich dort ein heftiges Erdbeben der Stärke 6,7 bis 7,1, das die Stadt zerstörte.

Am Vormittag haben die internationalen Teams im Hafen von Mannheim bereits eine Havarie geübt, bei der ein Containerschiff mit Aceton und Schwerölen in Brand geriet, mehrere Statisten als Schwerverletzte wurden von Teams in Schutzanzügen gerettet und am Ufer dekontaminiert.

Auf dem Übungsplatz setzt die Schweizer Hundestaffel einen zweiten Hund an, um nach einer weiteren Person zu suchen. Ein deutsches Team bereitet die Rettung der eingeschlossenen Personen zwischen den Trümmern vor. Ein Rettungshelikopter kreist über der Unglücksstelle, ein Notfallsanitäter seilt sich von ihm herab.

Überall schwärmen Hilfskräfte aus – vom Technischen Hilfswerk (THW), von Rettungskräften wie den Johannitern und der Feuerwehr. Etwa hundert Meter entfernt von der Stelle sind französische Einsatzkräfte dabei, mit schwerem Gerät riesige Betonbrocken aufzubrechen, während deutsche Feuerwehrleute mit einem Kran ein Autowrack aus einem Schutthaufen heben.

Thomas Schmidt, Militärattaché der Schweiz in Berlin, ist angereist, um sich ein Bild zu machen. «Es ist beeindruckend, was Baden-Württemberg da zustande gebracht hat», sagt er. Was die Schweizer Teams bei der Übung lernten, könne im Ernstfall wertvolle Zeit sparen und Leben retten. «In der Theorie ist alles einfach, aber im Terrain kommt es immer anders», sagt er. Die internationalen Teams bringen unterschiedliches Equipment mit und gehen nach eigenen Methoden vor. Übungen wie diese seien deshalb essenziell, um sich aufeinander einzuspielen, sagt Schmidt.

Bild links: Beobachter während der Übung im Mannheimer Hafen. Bild rechts: Thomas Schmidt, Oberstleutnant der Schweizer Armee und Militärattaché in Berlin.

Einsatzkräfte in luftdichten Schutzanzügen von der Wiener Feuerwehr während der Übung im Mannheimer Hafen.

Einsatzkräfte in luftdichten Schutzanzügen von der Wiener Feuerwehr während der Übung im Mannheimer Hafen.

Schweiz will Mitglied im EU-Katastrophenschutz werden

In Notfällen könnten sich Mitglieder des Katastrophenschutzes nicht nur mit Einsatzfahrzeugen oder Löschflugzeugen helfen, sondern auch mit Infrastruktur, Material und Fachpersonal unterstützen. Die Schweiz will Mitglied in dem EU-Mechanismus werden. Bereits seit 2017 hat sie die Zusammenarbeit mit der EU verstärkt. In diesem September beauftragte das Parlament den Bundesrat damit, einen Antrag auf Beitritt zum EU-Katastrophenschutzverfahren (UCPM) zu stellen.

Man muss kein EU-Mitglied sein, um Hilfe von der Europäischen Union anzufordern. Jedes Land der Welt kann über den UCPM Hilfe anfordern, wenn ein Notfall seine Kapazitäten zur Katastrophenbewältigung übersteigt. Doch als Mitglied geniessen die Länder entscheidende Vorteile.

Die Schweiz könnte als Mitglied im UCPM nicht nur von schneller Hilfe profitieren, sondern auch eigene Teams und Ausrüstung von Kantonen international einsetzen und wertvolle Erfahrungen sammeln. Die EU übernimmt dabei bis zu über 80 Prozent der Einsatzkosten und ermöglicht den Zugang zu Forschungsprojekten. Für die Schweiz belaufen sich die jährlichen Kosten für die Teilnahme, abhängig vom Bruttoinlandprodukt des Landes, auf etwa 8 bis 10 Millionen Franken.

Seit 2001 wurde das Katastrophenschutzverfahren mehr als 700 Mal aktiviert. Neben intensiver Unterstützung der Ukraine in den vergangenen beiden Jahren zählen das Erdbeben 2023 in der Türkei und Syrien dazu, aber auch die gesundheitliche Notlage aufgrund von Covid‑19, Rückführungen aus Afghanistan und verschiedene Waldbrände in Europa.

Schweiz könnte sich im Ernstfall nicht selbst helfen

Diese sind auch in der Schweiz nicht mehr unwahrscheinlich, insbesondere an der Nordseite der Alpen. Im Süden kann Italien helfen, doch an der Nordseite in den tiefen Tälern wäre ein grösserer Brand nach Einschätzung von Bollin vom Bund nicht alleine zu bewältigen. Die Schweiz verfügt beispielsweise über keine eigenen Löschflugzeuge. Ihre Beschaffung hat das Parlament schon mehrfach gefordert. Doch der Bundesrat lehnte eigene Flugzeuge ab.

Im Fall eines grösseren Erdbebens oder einer radioaktiven Wolke nach einem nuklearen Störfall wäre die Schweiz nach Einschätzung Bollins kaum in der Lage, sich selbst zu helfen.

Hilfe aus dem Ausland wäre zwar über bilaterale Verträge möglich, doch der UCPM würde viel grössere Möglichkeiten einräumen. Für die Schweiz ist ein Beitritt zu dem Katastrophenschutzverfahren rein rechtlich allerdings nicht möglich.

Bild links: Ein Helikopter der deutschen DRF-Luftrettung seilt über dem Trainingsareal in Mosbach einen Notarzt ab. Bild rechts: Florian Jerge, Teamleiter des deutschen Rettungsteams «@fire».

Einsatzkräfte aus der Schweiz sprechen über den Übungsablauf.

Einsatzkräfte aus der Schweiz sprechen über den Übungsablauf.

Keine Aufnahme im EU-Katastrophenschutzverfahren

Die EU-Regelung zum UCPM sieht vor, dass neben Mitgliedstaaten lediglich Beitrittskandidaten oder potenzielle Beitrittskandidaten sowie Staaten der Europäischen Freihandelszone (Efta), die dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) angehören, in dem Verfahren aufgenommen werden dürfen. Die Schweiz gehört zwar der Efta an, nicht aber dem EWR. Der entsprechende Passus müsste also geändert werden. Genau das hat die Schweiz auch vorgeschlagen.

«Man sollte den Katastrophenschutz nicht politisieren», fordert der Militärattaché Schmidt. Doch genau das scheint der Fall. Denn der Antrag der Schweiz bleibt offen. Kommissar Lenarcic weicht der Frage aus, wie es darum stehe, verweist auf das Regelwerk. Er sei aber sicher, dass das Problem bewältigt werden könne, durch ein «besonderes Arrangement». Das klingt vage.

Unterdessen arbeitet die Schweiz daran, die bilateralen Verträge mit ihren Nachbarn zu aktualisieren. Das Abkommen mit Deutschland stammt von 1984. Es sieht vor, dass die Hilfe ohne gegenseitige Absprachen nur in einem Grenzbereich von bis zu 30 Kilometern möglich ist. Eine Einschränkung, die im Ernstfall wertvolle Zeit kosten kann.

Roland Bollin vom Babs betont umso mehr, dass die Teilnahme an den EU-Übungen für die Schweiz hohe Priorität habe, «um das Interesse hoch zu halten», dass das Land im Katastrophenschutzverfahren aufgenommen wird. Die Schweiz hat ihre Kosten für die Teilnahme an der aktuellen Übung selbst getragen.

Im Oktober 2026 wird die Schweiz selbst eine EU-Katastrophenschutz-Übung im eigenen Land ausrichten. Sie wird voraussichtlich in Epeisses im Kanton Genf stattfinden. Auch hier soll ein Erdbebenszenario durchgespielt werden.

Auf dem Übungsareal in Mosbach gelingt es dem Schweizer und dem deutschen Team nach etwa drei Stunden, die eingeschlossene Person aus den Trümmern zu ziehen. Mit einem Schutzhelm wird die Frau vorsichtig auf eine Bahre gelegt. Sanitäter eilen herbei. Die Schweizer Hundestaffel sucht bereits nach weiteren Opfern.

Einsatzkräfte aus Griechenland bauen während der Übung im Mannheimer Hafen ein Zelt zur Dekontamination auf.

Einsatzkräfte aus Griechenland bauen während der Übung im Mannheimer Hafen ein Zelt zur Dekontamination auf.

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