Ausgerechnet Viktor Orbán, wird sich die liberale, proeuropäische Brüssel-Blase gedacht haben. Der ungarische Ministerpräsident besitzt dieses gewisse Talent, Trends zu setzen und sich als Gesprächsthema Nummer eins zu etablieren. Über Olaf Scholz, Emmanuel Macron oder Joe Biden spricht im Nachgang der Georgien-Wahlen niemand. Stattdessen bekommt Orbán – zum wiederholten Mal – die große geopolitische Bühne; die EU als Ganzes muss sich mit dem zweiten Platz zufriedengeben.

Der ungarische Ministerpräsident, der derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, reist nämlich, im Gegensatz zu seinen Kollegen aus dem EU-Kreis der Staats- und Regierungschefs, in die georgische Hauptstadt Tiflis, um der Regierungspartei vom Georgischen Traum auch persönlich zu gratulieren. Das tat Orbán übrigens schon auf seinen sozialen Kanälen, er schrieb beispielsweise vom „überwältigenden Sieg“ – und das, obwohl die zentrale Wahlkommission zu jenem Zeitpunkt noch gar kein Endergebnis veröffentlicht hatte.

Ungarn, Slowakei, Nordmazedonien, Georgien: Die Orbánisierung Europas

Orbán wird’s egal sein. Er bespielt Narrative – und das ziemlich erfolgreich. Es ist gar die Rede von der Orbánisierung europäischer Regierungen. Die ökonomischen Freiheiten oder wirtschaftspolitischen Vorteile der EU, vom Binnenmarkt bis zur Reisefreiheit, werden gut und gerne mitgenommen. Die von Brüssel geforderte einheitliche Identitäts-, Werte- und Sicherheitspolitik wird im politischen Budapest oder Bratislava derzeit jedoch anders interpretiert als in Belgien, Dänemark oder hierzulande.

Und der nationalkonservative Orbán’sche Stil gewinnt an Zulauf – besonders in der unmittelbaren östlichen Nachbarschaft der Europäischen Union. Der nordmazedonische Premier Hristijan Mickoski betrachtet sich als „Freund Orbáns“; in der bosnischen Republika Srpska huldigt man Orbán ebenso wie in Serbien oder aktuell in Georgien.

Während im Brüsseler Europaviertel in Anbetracht der langsam fortschreitenden Orbánisierung Europas Schnappatmung herrscht, darf die EU die Gründe für den „Verlust“ von Georgien nicht außer Acht lassen. Dem Westen ist es nicht gelungen, die Georgier außerhalb von Tiflis und in den entfernten Regionen effektiv anzusprechen und den Orbán-liken Narrativen des Georgischen Traums etwas entgegenzusetzen. Das größte Wahlthema des Georgischen Traums „Frieden gegen Krieg“ scheint in dem postsowjetischen Land, das noch immer vom Krieg mit Russland gezeichnet ist, sehr wirksam zu sein.

Die EU wie auch die proeuropäische Opposition unter Ex-Präsident Michail Saakaschwili vermochten es nicht, dieser Botschaft wirksame proeuropäische Argumente entgegenzusetzen. Kommt man mit Georgiern aus dem Hochgebirge des Kaukasus ins Gespräch, merkt man sehr schnell, dass viele EU-Debatten außerhalb der Hauptstädte wie entkoppelt von der Realität daherkommen. Brüssel mangelt es an Überzeugungsarbeit; es fehlt ein Instrumentenkasten, um Einfluss in der Region nachhaltig zu sichern.

Bei der Kontroverse rund um die Vorwürfe der Wahlmanipulation wirkt die EU zahnlos. Außer der schon alltäglichen „Wir sind besorgt über…“-Phrase ist es in den Tagen nach Auszählung der Wählerstimmen ruhig geblieben. Vereinzelte EU-Politiker fordern zwar Sanktionen gegen die politische Führung in Georgien und eine Nichtanerkennung des Wahlergebnisses – das große europäische Aufbäumen gegen die „gestohlene Wahl“, wie es in der georgischen Opposition heißt, bleibt jedoch aus.

EU könnte der Verlierer des Herbsts werden

Nicht nur in Georgien wirken die europapolitischen Ambitionen der vergangenen Monate zu hoch angesetzt. Schon das EU-Referendum in Moldau, das am Wochenende zuvor stattfand, entwickelte sich zur Zitterpartie für Brüssel. Wochen im Voraus ging der proeuropäische Block in dem kleinen, armen südosteuropäischen Land fest davon aus, dass weit über zwei Drittel der Moldauer sich für den Westen entscheiden. Doch dem ist nicht so: Ganze 49 Prozent sprechen sich dagegen aus – Stichwort Stimmenkauf durch Russland: Wenn Wahlberechtigte in Moldau sich lieber mit umgerechnet 50 Euro bereichern, als ihr Kreuz bei der EU zu machen, dann sagt es viel über den romantisierenden Blick auf einen EU-Beitritt aus.

Moldau entschied sich am Ende zwar hauchdünn für die EU, allen voran dank der Stimmen der europäischen Auslandsmoldauer – die Art und Weise des Referendums verlief jedoch enttäuschend. Ein EU-Beitritt Moldawiens rückte damit in weite Ferne, das Ziel 2030 in die Union einzutreten, wirkt derzeit unrealistisch.

In Georgien folgte eine weitere Niederlage für Brüssel – und das trotz der „demokratischen Vitalität“ und starken Zivilgesellschaft, wie Pascal Allizard, der Leiter der Georgien-Mission von der OSZE im Nachgang der Wahlen bilanzierte. Es verdichten sich die Anzeichen, dass ausufernde Massenproteste in der georgischen Hauptstadt Tiflis der letzte Joker für die EU in Georgien sein dürften.

In etwas mehr als einer Woche wird zudem in den USA ein neuer Präsident gewählt. Auch hier könnte die liberale Brüssel-Blase geschockt aufwachen, sollte Donald Trump wieder ins Oval Office einziehen. Für die EU könnten sich die kommenden Wochen zu einem Herbst der Niederlagen und Pleiten entwickeln. Ein Viktor Orbán lächelt derweil und plant wohl schon seine nächste Mission.

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